6,2 – Nachklang

Baden-Baden, den 29. 07. 2018
Für die beiden Heimkehrer folgen die Tage 3, 4, 5, usw. nach Ankunft von Rom; aber im Tagebuch von 1950 ist darüber kein einziger Eintrag. Es fehlt auch jeglicher Nachhall über diese große Fahrt. Während also in all den Tagen vorher und dann erst recht während der Fahrt tagtäglich so fleißig und ausführlich Buch geführt wurde, hat dies mit der Wiederankunft daheim schlagartig aufgehört.

Die nächst folgende Notiz ist vom Montag, dem 4. September 1950, mit dem unter der Überschrift „Der Alltag hat uns wieder“  in Lebach der Unterricht wieder beginnt.

Auch bis zum Ende des restlichen Jahres kommt in den weiteren Tagesnotizen das Wort Rom ebenfalls nicht mehr vor, nicht einmal das Wort!

Über Lebach wird berichtet,
wie nach den Sommerferien auch dort wieder das Leben begonnen hat. Das Internat, die Schule, der Tagesablauf, die Kameraden, die Pauker, alles scheint wieder wie eingespielt. Viele Zeilen und Seiten werden damit gefüllt, wie sich Lehre und Studium nunmehr gezielt auf die pädagogisch-didaktische Fachausbildung und die ersten eigenen Unterrichtsversuche in der „Versuchsschule“ verlagern.

Die bisher übliche Strenge des Internatsleben scheint sich ein wenig zu lockern; die Aufsicht bei Studium fällt weg; die Nachmittagsausgänge, mittwochs und samstags, werden um eine Stunde verlängert, Heimaturlaub ist etwas leichter als im Jahr zuvor zu bekommen.

Von daheim kann man lesen,
wie die Position in der Handballmannschaft gefestigt wird, wie sich einige Mädchenbekanntschaften, erstmals auch mit Josefa ergeben,
wie in Hontel die Kartoffeln ausgemacht werden, die Äpfel vom Reisberg  abgeerntet, gelagert oder gekeltert werden, die einen im Keller die andern im Viezfaß.

Und von draußen in der Welt
wird erwähnt, wie erneut wieder erbitterte Kämpfe in Korea entfacht sind, wie das Jahr bald auf das Friedensfest zugeht, die Menschen aber häufiger von der Gefahr eines dritten Weltkriegs sprechen.
Diese eher gedrückte Grundstimmung setzt sich auch im Tagebuch um die Jahreswende fort:

Montag, 24. 12. 1950
Der Heilige Abend erfüllt unsere Gemüter längst nicht mehr so wie damals, als wir noch „dran glaubten“. Inzwischen ist das Christbäumchen, das Vater immer im hinteren Wäldchen von „Hoarschd“ holte, jedes Jahr ein wenig kleiner geworden; schließlich ist auch die Krippe, die Vater selbst aus Terra cotta bei V&B gemacht hat, nicht mehr aufgestellt worden.

Und heute Abend steht in der Ecke der guten Stube an Stelle des Christbaums auf dem kleinen Tisch, auf Vaters Schustertisch, über den eine weiße Damastdecke gelegt ist, eine Kristallvase mit einem Strauß lamettageschmückter Tannenzweige.

Dienstag, 25. 12. 1950
Weihnachten 1950 –  Schließung der Heiligen Pforte in Rom.
Am Radio erkenne ich die Stimme des Papstes wieder. Er spricht zwar vom Frieden auf aller Welt, aber seine Stimme klingt nicht mehr so zuversichtlich  wie vor einem halben Jahr, als er in der Peterskirche zu uns gesprochen hatte.

Hätte gute Lust, in Hontel Ski zu fahren; doch wegen der Würde des Tages bleibe ich zu Hause.

Neujahr 1951
Ein herrlicher Wintermorgen, Neuschnee in der Nacht und jetzt blauer Himmel, die Luft kalt und klar – Herz, was begehrst du mehr!

Doch nach der Messe lege ich mich wieder hin; einiges ist in der Nacht durcheinandergeraten. Es fängt an zu dunkeln, wie ich erwache. Treffe mich mit Willi in der Spätvorstellung: ein Filmstreifen, um vielleicht besser gelaunt zu werden.

„Wo gekämpft wird, gibt es auch Wunden;
Wunden heilen, drum kämpfe weiter.“

(Kewenig)

8. Januar 1951: Zurück in Lebach


 (Kopie aus dem Original des Tagebuchs 1951)

Keine Römische Nachlese, nur eine letzte Erinnerung

Wenn auch verständlich erscheint, daß das Unternehmen Brotdorf-Rom-Brotdorf während der unmittelbar darauffolgenden Tage in den Aufzeichnungen des Heimkehrers so gut wie keinen Niederschlag gefunden hatte, so weiß bis heute allzu gut, welche Bedeutung diese Fahrt, diese Tage  und Nächte zusammen mit Willi, für das weitere Leben besessen hat und noch besitzt.

Wenn immer in der Nachfolgezeit das Leben im Guten und im Schlechten eine Gelegenheit des Erinnerns und des Vergleichens aufdrängte, hatte ich diese unzählige Male wahrgenommen, immer wieder lebendige Bilder aus der Romfahrt aufzufrischen und Interessenten zu schildern.

Eines dieser Bilder, vielleicht das stärkste überhaupt, es ist zugleich das letzte dieser Fahrt: Es ist die Stelle und der Augenblick, an dem Willi und ich vor dem Kaiserhof noch einmal vom Rad abstiegen, es ist dieselbe Stelle, wo wir anfangs in der ersten Stunde des neuen Jahres das „Vorhaben Rom“ besiegelt hatten und wo sich nun am Ende der Fahrt unsere weiteren Wege trennten, der Augenblick, als Willi stumm den Arm um mich legte, wir uns fest in die Augen schauten und jeder für sich die letzten noch bleibenden Meter zu seinen Leuten alleine fuhr.

Rudolf Engel, Juli 2018